HERE AND THERE / ICI ET LÀ

18.01.2020 - 23.02.2020

Sali Muller

Vernissage le 18.01.2020 à 11:30

Dominique Lang

S A L I   M U L L E R 

H E R E  A N D  T H E R E  |  I C I  E T  L À 

 Ausstellungskonzeption und Text | Harald F. Theiss | Kurator 

DE

 Mit der umfangreichen Einzelausstellung H E R E  A N D  T H E R E  |  I C I  E T  L À verwandelt die Bildhauerin Sali Muller den gesamten Ausstellungsort in einen sich ständig verändernden Reflexionsraum und bewirkt auf diese Weise beim Publikum eine ästhetische und physische Erfahrung, die über die Selbstbetrachtung hinausgeht. Die spiegelnden Oberflächen entgrenzen den Raum und werden zum Vermittler zwischen außen und innen, dem hier und dort.

Die Künstlerin konfrontiert die Besucher gleich zu Beginn der Ausstellung mit einem scheinbar liegen gelassenen Haufen aus Sand (Pyramide, 2019). In seiner unspektakulären Form erinnert er an  Baustellen und ist hier nicht zwangsweise sofort als Teil einer Sanduhr im Stillstand erkennbar. Muller verhandelt die Bedeutung von Zeit - Abschnitten neu und pendelt zwischen vorzeitigen, ungeklärten Abläufen und Unendlichkeit. Auf diese Weise erweitert sie die allgemein bekannten allegorischen Bilder europäischer Kunstgeschichte und übersetzt sie in eine Gegenwart aus Brüchen. In ihrer aktuellen Ausstellung bündelt sie mit konzeptionellen bildhauerischen Positionen eine Reihe von komplexen Themen, die für ihr ganzes Schaffen von Bedeutung sind. Sie erforscht mit künstlerischen Mitteln gegenwärtig relevante Fragestellungen, im besonderen die der Identität, Geschlechterrollen und (Selbst-)Repräsentanz vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen und in Zeiten von Selbstoptimierung. Ähnlich den individuellen Versuchen sich in einem sozialen Gefüge sichtbar zu machen, markiert Sali Muller mit lichtreflektierenden Installationen, blendenden Objekten und Projektionen den gesamten Ausstellungsort. Ihre visuellen „Kommentare“ werden zum Abbild von Zeit, in der Täuschungen zunehmend eine bedeutende Rolle spielen. 

Mit dem von ihr zumeist bevorzugten Material von Spiegelflächen öffnet sie einen assoziativen Denkraum und zitiert gleichzeitig mit ihren Appropriationen en passant jüngste Kunstgeschichte. Wie schon bei den Mirrored Cubes (1965) von Robert Morris werden die Ausstellungsbesucher mit den spiegelnden Würfeln Fragile Gebilde (2019) von Sali Muller wieder zum Bestandteil der Kunst. Die darüber sichtbar gewordene körperliche Anwesenheit entwickelt eine bewusst spürbare Beziehung zu den sich darin spiegelnden Objekten, dem Raum und letztendlich auch zu sich selbst und dem Fremden. 

Als Objekt der Darstellung hat der Spiegel kultur- und kunsthistorisch seit Jahrhunderten eine große Bedeutung: von Selbstbetrachtungen, dem Abbild der Seele bis hin zum Motiv des Vergänglichen oder von Übergängen realer Welten in magische Paralleluniversen. Sie lassen auf diese Weise eine Vielfalt von imaginären Spiegelungen zu. Als Metapher der Reflexion erweitert der Spiegel den Blick der Selbsterkenntnis und Selbstbetrachtung. Sali Muller nutzt die Spiegel als Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Praxis, um ihn wieder zu „entspiegeln“, ihn zu brechen oder zu fragmentieren. Die nicht vollendeten Formen, die sie einfach stehen oder liegen lässt, sind eine ihrer künstlerischen Eigenarten und immer wiederkehrendes Erkennungsmerkmal mit dem sie uns Denkaufgaben stellt. Exemplarisch dafür ist ihre mehrteilige Arbeit The Missing Part (2017). Wie rätselhafte Spuren fordern die Objekte auf, sie entweder wieder zusammenzustellen, neu zu arrangieren oder sie weiterzudenken. 

Das sonst narzisstische Spiegelbild und der darin erkennbare Raum ist gestört oder verschwindet. Der Blick auf sich selbst wird nur noch in Bruchstücken zurückgeworfen. Es entsteht ein ambivalentes Wahrnehmungsexperiment, abwechselnd von realen, virtuellen oder fast surreal anmutenden Bildern von Innen und Außen, von Stimmungen und Zuständen, in denen sich Vergangenheit, Gegenwart und auch Zukunft spiegeln. 

Die Wahrnehmungsbedeutungen von Jetzt, Später bzw. (Un)Endlichkeit verschieben und verstärken sich - außen noch reale und jetzt im Inneren surreal wirkende Wolkenformationen in immer gleichen, sich wiederholenden und niemals endenden Bewegungen (o.T., Wolkenbilder, 2019). Die neuen Wolkenbilder verwandeln den Raum in eine magisch sinnliche Projektionslandschaft. 

Sie erinnern an den Meister der Täuschung René Magritte, der sich in seinem Werk stark mit der Wahrnehmung von Wirklichkeit beschäftigt und versucht hat, das Unsichtbare über das Sehen und Denken offenzulegen: die Dinge anders zu sehen. Muller lenkt auf diese Weise den Blick hinter die lichtreflektierenden Flächen und Motive. Mit der mehrteiligen medialen Bodeninstallation werden die allgemeinen Sehgewohnheiten aufgehoben. Es findet ein Perspektivwechsel von oben und unten statt, bei dem  nicht nur die Raumsituation neu verhandelt wird. Das darin vermutete Spiegelbild in der gewohnt reflektierenden Oberfläche verschwindet hinter den Wolken. Gleichzeitig öffnet sich der Boden und verbindet das Hier mit der Vorstellung dahinter. 

Das Nicht-Abbildbare beschäftigt die Künstlerin auf eine fast obsessive Weise in ihrem gesamten, noch jungen aber bereits umfangreichen Oeuvre. Mit den Überblendungen und Illusionen (Der Moment in dem sich alles dreht, 2019) entstehen neue Zeiträume -  sie verführen das Publikum hinter die rätselhaften Flächen und konfrontieren es mit Selbstbetrachtungen und dem unbewussten und verborgenen Inneren. Nicht nur die Objekte sind in Bewegung sondern auch die Gedanken der Betrachter. Regelmäßig kreisend bewegen sich mehrere Spiegelflächen und erzeugen eine hypnotisierende Wirkung. Die mehrteilige kybernetische Skulptur aktiviert den Raum und die gesamte Motorik bzw. Bewegungsabläufe darin. Sali Muller überführt Alltagsgegenstände (Au bon vieux temps, 2018) in den Kunstkontext und fordert zu Reflexionen über die Zeitfrage auf, in dem temporäre und spekulative Erweiterungen mit Imagination und Realität verschmelzen. Mit der Jalousienarbeit Das Zeitfenster, 2017 übertreten wir die Schwelle hinter dem Regenbogen und folgen in unserer Vorstellung dem weißen Kaninchen in das Wunderland...

Einige Arbeiten sind eigens für diese Ausstellung entwickelt worden und beziehen sich auch auf die Architektur und Geschichte des Gebäudes. Die Stärke von ortsspezifischen Installationen ist der Dialog mit den Räumen, der hier im Centre D'Art Contemporain mit einer Spiegelarbeit an der Fassade beginnt. Die Fläche reflektiert das Umfeld immer wieder in neue und unendlich viele flüchtige Bilder. Mit Mirage (2019)verbindet Muller formal das Äußere mit dem noch unbekannten Inneren. Erst nach eine Weile und am Ende der Ausstellung angekommen erschließt sich mit der Soundinstallation Puls (2019) das Verborgene dahinter. Die Arbeit markiert einen zeitlich begrenzten Ablauf und vorläufigen Endpunkt. Oder verstummt plötzlich und unerwartet das mahnende Ticken einer Uhr und verändert so das Dasein in ewige Stille?

 Während die Spiegelobjekte in der Minimal Art keine Ambitionen für Assoziationen hervorrufen wollten, verlassen bei Sali Muller die geometrischen Formen und Alltagsgegenstände das reduzierte und raumbewusste Wechselspiel von außen und innen zugunsten von raumübergreifenden Reflexionen, neuen Erfahrungen zwischen Selbstbetrachtung und Selbstwahrnehmung, um gleichzeitig auch auf die Dimension von Zeit und ihrer Vergänglichkeit zu verweisen.

Zusammenfassend untersucht die materialikonographische Ausstellung mit ihrem partizipativen Anspruch unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit und Zeitlichkeit und entwickelt gleichzeitig ein ungeklärtes Verhältnis von beobachten und beobachtet werden. Darüber hinaus sprengen die Spiegelbilder die Grenzen des Raumes und bewirken beim Publikum ein sowohl körperliches als auch atmosphärisch-ästhetisches Erlebnis. 

EN

With a comprehensive solo exhibition HERE AND THERE | ICI ET LÀ the sculptor Sali Muller transforms the entire exhibition space into an ever-changing space of reflections, thus giving the audience an aesthetic and physical experience that goes beyond self-contemplation. The reflecting surfaces visually remove space boundaries and become the mediator between outside and inside, here and there.

Right at the beginning of the exhibition the artist confronts the visitors with a seemingly abandoned heap of sand (Pyramid, 2019). In its unspectacular and primary form, it is reminiscent of construction sites and not necessarily and immediately recognizable as part of an hourglass at a standstill. Muller renegotiates the meaning of time - sections and oscillates between premature, unexplained sequences and infinity. In this way she extends the well-known allegorical images of European art history and translates them into a present of fractures. In her current exhibition, she combines conceptual sculp­tural positions with a series of complex themes that are important for her entire creational process. She uses artistic means to explore currently relevant issues, in particular those of identity, gender roles and (self-) representation in the context of social change and in times of self-optimization. Similar to the individual attempts to distinguish ourselves in a social fabric, Sali Muller marks the entire exhibi­tion space with light-reflecting installations, dazzling objects and projections. Her visual “comments” become a reflection of a time where delusions increasingly play a significant role.

With her preferred material of mirrored surfaces, she opens an associative space of thought and at the same time, with her appropriations, quotes the recent history of art en passant. As with the Mirrored Cubes (1965) by Robert Morris, visitors will once again become part of the art with Sali Muller’s re­flecting cubes Fragile Gebilde (2019). The physical presence that has become visible develops a con­sciously perceptible relationship to the objects reflected within them, the space and ultimately also to oneself and the stranger.

As an object of physical representation, mirrors have been of great cultural and art historical signifi­cance for centuries: from self-contemplation, the image of the soul, to the motif of transience or the transitions of real worlds into magical parallel universes. They allow a variety of imaginary reflections. As a metaphor of reflection, the mirror expands the view of self-knowledge and self-contemplation. Sali Muller uses the mirrors as a starting point for her artistic practice in order to “refract” them, break them or fragment them. The unfinished forms, which she simply leaves standing or lying, are one of her artistic peculiarities and recurrent patterns with which she gives us thinking tasks. An example of this is her multi-part work The Missing Part (2017). Like enigmatic traces or signs, the objects chal­lenge us either to put them together again, to rearrange them or to re-think them.

The otherwise narcissistic mirror image and the recognizable space is disturbed or disappears. The view of oneself is reflected only in fragments. The result is an ambivalent perception experiment, alternating between real, virtual or almost surreal images of inside and outside, of moods and states in which past, present and future are reflected.

The perceptual meanings of now, later or (in) finiteness shift and intensify - on the outside still real and now, inside a confined space, surreal cloud formations in always identical, repetitive and never-ending movements (o.T., Wolkenbilder, 2019). The new cloud images transform the space into a magically sensual projection landscape. They are reminiscent of the master of deception, René Magritte who was deeply involved in the perception of reality in his work, trying to expose the invisible through sight and thinking: to see things differently. In this way, Muller directs the view behind the light-reflecting surfaces and motifs. With the multi-part medial floor installation, the general viewing habits are lifted. There is a change of perspective from above and below, in which not only the room situation is renego­tiated. The supposed mirror image in the usual reflective surface disappears behind the clouds. At the same time, the floor opens and connects the here and now with the imagination behind it.

The unrepresentable occupies the artist in an almost obsessive manner in her entire, still young, but already extensive oeuvre. New time periods emerge with the superimpositions and illusions (Der Moment in dem sich alles dreht, 2019) - they seduce the audience by attracting them behind the enig­matic surfaces and confront it with self-reflection and the unconscious and hidden interior. Not only the objects are in motion but also the thoughts of the viewer. In a regularly circular movement, several mirror surfaces move and create a hypnotizing effect. The multi-part cybernetic sculpture activates the space and the entire motor activity or movements in within. Sali Muller converts everyday objects (Au bon vieux temps, 2018) into the context of art and calls for reflections on the questions of time, in which temporal and speculative expansions merge with imagination and reality. With the work on the blinds Das Zeitfenster, 2017, we cross the threshold behind the rainbow and, in our imagination, follow the white rabbit into wonderland...

Some of the works have been specially designed for this exhibition and also relate to the architecture and history of the building. The strength of site-specific installations is the dialogue with the space, which begins here in the Centre D’Art Contemporain with a mirror work on the front oft he building. The area reflects the environment again and again into new and infinitely many fleeting images. With Mirage (2019) Muller formally connects the exterior with the still unknown interior. After a while and at the end of the exhibition, the sound installation Puls (2019) opens up the hidden behind it. The work marks a time-limited sequence and preliminary endpoint. Or does the warning ticking of a clock suddenly and unexpectedly stop, thus turning existence into eternal silence?

While in Minimal Art, mirror objects do not seek to evoke any associations, Sali Muller’s geometric forms and everyday objects abandon the reduced and space-conscious interplay between outside and inside in favor of spatial reflections, new experiences between self-contemplation and self-perception, and at the same refer to a dimension of time and its transience.

In summary, the iconographic exhibition with its participatory aspirations examines our perception of reality and temporality, and at the same time develops an unexplained relationship between obser­vating and being observed. In addition, the mirror images disrupt the boundaries of the room and cause a both physical and atmospheric-aesthetic experience for the visitors.